Als sie ihn das letzte Mal sah, wollte
er sie umbringen. 12 Jahre saß er
dafür wegen versuchten Mordes
im Gefängnis. Dann kam er frei
und zog zurück in sein altes Haus.
Dummerweise ist das nur ein paar
Straßen von ihrem entfernt.
Veröffentlicht im FLEISCH MAGAZIN
Gestern war mal wieder so ein Tag, gestern musste sie an ihn denken. Sie war gerade beim Yoga, da fühlte sich ihr rechter Arm plötzlich taub an. Sie tastete über ihren Ellbogen, den Oberarm, die Schulter, spürte plötzlich die Wölbung, die sich vom Hals zu ihrem Nacken zieht. Die Narbe. Und da ging’s auch schon wieder los mit den Bildern: Wie er näher kommt, Schritt für Schritt. Wie er sie anbrüllt und packt und ihr Körper unter seinen Händen zerrinnt, als wäre er Butter. Die Schreie, das Messer, Frau K., die dasteht auf ihrer Yogamatte zwischen all den anderen. Und fällt.
Ein Mittwoch, Anfang Dezember, kurz nach acht: Draußen hängt dichter Nebel in den Gassen, drinnen sitzt Frau K. jetzt vor einer Tasse Kaffee. Ewig her, sagt sie, dass sie ihre Erinnerung so eingeholt hat. Eigentlich vermeidet sie es, an ihn zu denken, erst recht, seit sie bei einer Energetikerin war, die so etwas sagte wie: „Schlechte Gedanken ziehen das Schlechte an.“ Und klar hätte sie früher darüber gelacht, sie weiß ja, wie verrückt das klingt. Energiefelder, Aura, Yin und Yang. Aber jetzt, wo er wieder hier wohnt, keine 600 Meter entfernt, geht ihr dieser Satz nicht mehr aus dem Kopf. Was, wenn es stimmt?
Ziemlich genau ein Jahr ist es her, dass der Mann, der sie einmal umbringen wollte, aus dem Gefängnis entlassen wurde und in ein Haus ein paar Straßen weiter zog. Zurück in das Dorf also, das man in zwei Stunden zu Fuß durchlaufen kann, in dem es nicht gerade viel gibt, nur zwei Supermärkte, einen Bäcker, eine Trafik, ein kleines Wirtshaus. Irgendwann trifft man sich hier. Ob man möchte oder nicht. Als Frau K. ein paar Monate vor der Entlassung davon erfuhr, dachte sie, das sei ein Fehler, ein Missverständnis vielleicht. Sie dachte: Wie zur Hölle kann das sein?
Es gibt, zumindest aus Sicht des Strafrechts, ein paar Gründe dafür. Einer davon nennt sich Resozialisierung und meint, dass Täter:innen nach verbüßter Haft so rasch wie möglich Teil der Gesellschaft werden sollen. Und klar tun sich manche Menschen leichter damit, wenn sie ein neues Leben anfangen, Skipper werden irgendwo auf den Kanaren. Es gibt aber auch solche, die lieber dorthin zurückgehen, wo sie ihre Bankberaterin beim Frühschoppen treffen, den Wirt mit Vornamen begrüßen. Dorthin, wo die Schwester wohnt, die Eltern oder der beste Freund, wo einem ein gewachsenes soziales Umfeld dabei hilft, nicht rückfällig zu werden. Wo aber, in diesem Fall, auch das Opfer wohnt.
Frau K. erzählt, dass eine ihrer Freundinnen ihn vor der Kirche gesehen hat, eine andere traf ihn beim Joggen im Wald. Wenn er Sport macht, fügte sie in ihrem Kopf zusammen, müsse er fit sein. Dann fragte sie sich: Ist er immer noch so stark wie damals? Eine Woche schlief sie schlecht.
Seit er wieder da ist, möchte Frau K. manchmal lieber unsichtbar bleiben. Sie fährt deshalb in den Nebenort zum Einkaufen und wer das macht, der möchte auch seinen vollen Namen nicht hier stehen haben. Auf der anderen Seite aber will Frau K., eine schlanke Frau, mit hellem Lachen und Augen so groß wie Murmeln, auch gesehen werden. Als Opfer einer Straftat, die vielleicht verhindert werden hätte können. Und als Frau, die überlebt hat, die weiterlebt. Die dankbar ist für jeden Tag, den sie hat. Trotz oder gerade wegen dem, was ihr widerfahren ist. Deshalb gibt es diesen Text.
Wer Frau K.’s Geschichte wirklich verstehen will, muss zurückspulen, wie bei einem Film. Wo soll man beginnen? Frau K. steht auf, geht zum Küchenfenster, schaut durch die Scheibe raus in den Garten, sagt: „Das Verrückte ist ja, dass ich wirklich verliebt war.“ Ziemlich genau siebzehn Jahre ist es her, da verabredeten sie sich zum ersten Mal. Es war Winter, sie saßen in einer Kneipe, draußen schneite es, über ihnen Zigarettenqualm, Rockmusik, und Frau K., sie weiß nicht, wieso, aber sie will ihn berühren, will ihre Hand auf seine legen. Darf ich?
Den kommenden Sommer verbringen sie als Paar gemeinsam in Griechenland. Sie fahren mit dem Auto über Küstenstraßen. Er am Steuer, sie daneben, die Beine über der Armatur gelegt. Sie leben in den Tag hinein, Dosenravioli in der Wiese, lange, helle Abende, der Blick über die brechenden Wellen. Das Leben, denkt sie damals, kann so leicht sein, so schön.
Dann aber fing es an. Es kam wie aus dem Nichts. Zuerst sperrte er sie ins Hotelzimmer, weil sie ohne seine Erlaubnis spazieren ging. Dann zerrte er sie in sein Auto, weil sie auf einer Gartenparty länger bleiben wollte. Immer wieder drohte er ihr. Und sie? Zu dieser Zeit, sagt sie, kam ihr Hirn da nicht ganz mit, sie war doch verliebt und konnte nicht fassen, was ihr da passierte.
Wie landet man in einer Gewaltbeziehung? Vielleicht, wenn die Frau wehrlos ist und abhängig von einem Mann? Vielleicht, wenn sie auf richtige Macker steht, auf Arschlöcher, die einen auf dicke Hose machen? Andere Gründe fielen ihr nicht ein. Früher.
Femizide, das weiß man inzwischen, kommen in den unterschiedlichsten Milieus vor. Die Eskalation aber verläuft sehr ähnlich, egal, ob es sich um ein Juristenehepaar oder zwei Teenager handelt: Da ist zunächst dieser Sog der Verliebtheit, eine Verbundenheit zweier Menschen, die zu einer Verbindlichkeit wird, immer mehr zu einem Anspruch, den ein Mensch über den anderen stellt. Bei über 90 Prozent kommt es vor der Tat zu Drohungen, Stalking oder Gewalt. Oft glaubt das Opfer zunächst noch daran, dass sich der Partner bessern würde, bis es schließlich zu einer Trennung kommt – der für das Opfer gefährlichsten Zeit.
Es ist Spätherbst, zehn Monate nach dem Abend in der Bar, als sie ihn endlich verließ. Sie überlegte sich genau, wie sie es ihm erklären sollte, und entschied sich dann für eine Kurzfassung: „Bitte geh.“ Er aber rührte sich nicht, saß nur da, starr wie eine Statue, und am nächsten Tag, als er von Arbeit kam, spazierte er einfach ins Wohnzimmer und fragte: „Wie war dein Tag?“ So als wäre nichts gewesen, als wäre es das Normalste der Welt. Sie schmiss ihn raus. Er stahl die Schlüssel. Sie ließ die Schlösser tauschen. Er stieg durch das Fenster im Badezimmer ein. Er kam durch die Dachluke, über die Veranda, saß plötzlich wieder am Esstisch, mitten in der Nacht. Und irgendwann, als sie alle Schlösser getauscht und die Fenster mit einem Gitter verriegelt hatte, trommelte er mit den Fäusten gegen die Türe und schrie: „Lass mich rein oder ich bring’ dich um!“
Und die Polizei? Dreimal rief sie an, aber wenn sie dann mal kamen, hieß es nur: Für Streitigkeiten sei man nicht zuständig. „Tut uns leid, Frau K., aber das müssen Sie mit Ihrem Partner klären.“ Einmal drehte sich einer der Polizisten noch mal um, lachte und fragte: „Frau K., Sie zittern ja, ist Ihnen kalt?“ Es ist der Moment, in dem sie aufhört zu hoffen, dass ihr aus diesem Albtraum jemand anderer raushelfen werde und auch, dass er von allein ende. Es ist der Moment, in dem sie begreift, dass sie auf sich allein gestellt ist, und der Moment, in dem sie ahnt, dass ihr etwas zustoßen wird. Immer wieder lauerte er ihr auf, verfolgte sie, wann immer sie das Haus verließ. Einmal saß er im Wohnzimmer ihrer Eltern, heulte und flehte und sagte immer wieder: „Ich werde das nie wieder tun, versprochen.“ Einmal schüttete er ihr bei einem Fest ein Glas Weißwein ins Gesicht. Niemand reagierte. Niemand stellte ihn zur Rede. Einmal verfolgte er sie bis auf die Autobahn, fuhr ihr immer wieder hinten auf. Einmal stand er im Garten und starrte durch ihr Fenster, mitten in der Nacht. Und er rief an. Tausende Male.
Frau K. steht auf, verschwindet kurz ins Schlafzimmer und kommt zurück mit einem schwarzen Ordner, dick wie ein Ziegelstein. Sie hat alles sortiert und in Folien verpackt: Anzeigen, Gutachten, Vorladungen, ausgedruckte Mails, kleine Belege einer Eskalation oder der Ohnmacht, je nachdem. Lange hat sie sich nicht getraut, ihn anzuzeigen, weil sie fürchtete, dass er sie dafür bestrafen würde. Einmal war sie auf der Polizeistation, sie wolle etwas deponieren, sagte sie leise, als hätte sie eine kleine Bombe in der Tasche. „Hier“, sie zeigt auf ein Gerichtsdokument, „die erste Verhandlung.“ Da saß er eines Nachts wieder in ihrem Wohnzimmer, zerrte sie in sein Auto und fuhr zu seinem Haus. Er verriegelte
alle Türen, sperrte sie in den Keller, fesselte und knebelte sie. Erst
am nächsten Tag ließ er sie gehen. Danach ging sie ins Frauenhaus, erstattete schließlich Anzeige.
Bei der Verhandlung fragt die Richterin: „Frau K., wieso haben sie sich nicht gewährt?“ Das Urteil: Neun Monate auf Bewährung.
Wer der steilen Straße hinter dem Haus von Frau K. folgt, gelangt irgendwann zu einem weiten Feld. Vielleicht ist es übertrieben zu sagen, man hätte von hier eine gute Aussicht, aber zumindest hat man alles im Blick. Die Kirche. Den Eichenwald. Die Hauptstraße. Die Hecken und Gerätehütten. Ein Dorf, an dessen Hügeln ein paar Dutzend Häuser hängen wie überdimensionale Schuhkartons, rechteckig und blass. Frau K., eine Frau, die den Sommer über draußen im Garten schläft, die nie heiraten wollte und getrimmte Buchsbäume spießig findet, passt beim besten Willen nicht hierher. Wieso ist sie geblieben? „Manchmal weiß ich das selbst nicht so genau“, sagt sie. Eigentlich hatte sie immer von einem Leben im Süden geträumt, etliche Male hatte sie überlegt, auszuwandern. Italien, Frankreich, ganz egal, Hauptsache – Meer, das wollte sie immer. Aber hier ist sie aufgewachsen, hier hat sie den Wald vor der Türe, den sie so liebt, hier wohnen ihre besten Freunde, die Schwester, der Neffe und die Eltern. All die Menschen, die sich nach der Tat um sie gekümmert haben, als sie vor Schmerzen nicht aufstehen und aus Angst nicht in ihr Auto steigen konnte. „Wieso sollte ich jetzt von hier wegziehen? Wieso ich?“
Mit Frau K. zu reden heißt auch, ihr beim Schweigen zuzuhören. Und dabei, wie sie Gedanken sortiert und wieder verwirft. Manchmal fragt sie sich, was sie ihrem jüngeren Ich raten würde, könnte sie in die Vergangenheit reisen. Wegziehen? Niemandem trauen? Manchmal fragt sie sich auch, wie viel Schuld sie an der ganzen Sache hat. Ob sie blind war, zu naiv? Ob sie ihn provozierte, gar beleidigte, ohne es zu merken? Vielleicht fragt sie sich das aber auch, weil sie eine Erklärung braucht für
das, was ihr passiert ist, weil es umgekehrt ja bedeuten würde, dass sie nichts hätte tun können, um die Tat zu verhindern, und noch schlimmer: Dass es sich wiederholen könnte.
Es war eine ungewöhnlich kühle Juninacht. Frau K. kommt kurz vor Mitternacht nach Hause, stellt das Auto in der Garage ab und schiebt den Schlüssel in die Eingangstüre. Im Vorbeigehen hört sie das Piepsen der Waschmaschine unten im Keller, sie steigt die Holztreppe hinunter, legt den Lichtschalter um und sieht ihn plötzlich vor sich stehen, sieht das Messer in seiner Hand. Er reißt sie nieder, die Klinge rutscht durch ihren Hals, durchtrennt den linken Stimmnerv, acht ihrer Fingerkuppen. Ihre Schreie hallen durch die ganze Nachbarschaft, durch Gassen, Gärten und gekippte Fenster. Und sie sind so laut und schrill, dass auch der Täter für einen Moment zurückschreckt. Da gelingt M. die Flucht, sie läuft hinaus in den Garten und rettet sich über den Gartenzaun. Auf der Straße bricht sie zusammen. Ein Nachbar, der ihre Schreie hörte, läuft ihr entgegen, sinkt zu ihr herab, bindet die Wunde mit einem Tuch ab, legt ihren Kopf in seinen Schoß. Dann verschwimmt alles.
Sechs Stunden lang näht der Chirurg durchtrennte Arterien und Nerven wieder zusammen. „Sie hatten Glück“, wird er später, als sie wieder zu sich kam, sagen, „verdammt viel Glück.“ Auf der Intensivstation wachen Apparate blinkend und piepend über ihr Herz, neben ihrem Bett verläuft ein Meer aus Kanülen und Kabeln. Und natürlich spürte sie, wie verwundet sie war, sie konnte sich ja kaum rühren – das Morphium, die Nähte und Bandagen – und doch war sie auch erleichtert, völlig verrückt eigentlich, aber das Erste, woran sie dachte, war: Es ist vorbei. Endlich.
Frau K. beugt sich über den Ordner, sagt: „Natürlich war es da nicht vorbei.“ Sie schnalzt mit der Zunge, wie man eigentlich nur zum Tadel schnalzt, und zeigt auf ein Formular, Zeugenaussage ist darauf zu lesen, ausgestellt vier Tage nach der Tat. Ein Polizist führte sie von der Intensivstation in den Verhörraum. Fünf Stunden saß sie da, mit Bandagen, nass von den Wunden, nackt bis auf den Patientenkittel, benebelt von den starken Schmerzmitteln. Sie sollte erzählen, was passiert war. Sie tat das, so gut sie konnte. Mit säuselnder Stimme, weil das Messer den Stimmnerv durchtrennt hatte. Und Frau K., sie weiß nicht, wieso, aber sie schämte sich.
Und nein, es war nicht vorbei, auch nicht, als sie aus dem Krankenhaus kam. Wenn man so will, ging es erst richtig los. Schon immer wurde im Dorf über sie gesprochen, über sie, die keine Kinder wollte, die oft spät nach Hause kam und lieber alleine wohnte als mit einem Mann. Nach der Tat aber spaltete sich ihr Heimatort an ihrem Fall so wie später nur an Corona. Da waren die, die fassungslos waren, die nicht verstanden, wie es so weit kommen konnte. Und andere, die sagen, dass Frau K. übertreibe: „Wie schlimm kann es schon gewesen sein, wenn sie wieder lacht?“ Es gab Männer, die im Wirtshaus saßen und darüber spekulierten, was sie, Frau K., angestellt haben könnte, das ihn so verärgert hatte. Und Bekannte, mit denen sie früher zusammensaß und die jetzt die Straßenseite wechseln, wenn sie Frau K. sehen: „Sie sagten, ich sei schuld daran, dass er im Gefängnis war. Und an der Unruhe, die ich hierherbrachte.“
Wie lange ist man Opfer? Wie lange Täter? Das Strafrecht hat eine klare Antwort darauf: Opfer ist man bis zur Gerichtsverhandlung. Täter bis zur Freilassung. Frau K. sagt: „Aber manches bleibt für immer.“ Die Narbe an ihrem Hals, zum Beispiel. Und was ist mit seiner Wut? Sie hat öfters daran gedacht, die paar hundert Meter zu seinem Haus zu gehen. Früher oder später trifft man sich ja ohnehin. Aber was sollte sie dann sagen, wenn sie vor ihm steht?
Ob sie mal an Rache gedacht hat? Nein, sagt Frau K., nie, wirklich niemals, im Gegenteil: Sie wünsche ihm ein gutes Leben, Freunde, ausreichend Geld und – ach ja, eine Frau. „Weil wer verliebt ist“, Frau K. deutet sich auf die Stirn, „der vergisst alles.“ Sie jedenfalls hätte mit den Männern abgeschlossen, sie habe ohnehin nie einen gebraucht. Frau K. steht jetzt auf und öffnet die Balkontüre. Lautlos pirschen sich zwei Katzen heran und beugen sich über eine Futterschüssel. Nie wollte sie Haustiere haben, sagt Frau K. Aber was soll sie sagen, sie kamen immer wieder zurück, standen dann vor ihrer Türe, als hätten sie sich ihr Haus ausgesucht. Ausgerechnet.